Ein sterbender Planet und ein verlassenes Volk Der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimawandel (IPCC) wurde 1988 gegründet, um politischen Entscheidungsträgern fundierte Bewertungen der Klimawissenschaft zu liefern. Seine Berichte sind vorsichtige, ausgehandelte Dokumente: Jedes Wort im Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger muss nicht nur von Wissenschaftlern, sondern auch von Regierungen genehmigt werden – einschließlich derjenigen, die am stärksten in fossile Brennstoffwirtschaften investiert sind. Dieser Prozess hat der Welt Wissen, aber auch Illusionen vermittelt: das Gefühl, dass die Katastrophe noch fern ist, die Unsicherheit noch groß und die Zeit noch vorhanden ist. Die Wahrheit ist eine andere. Die Auswirkungen, die der IPCC für das Ende dieses Jahrhunderts prognostizierte, sind bereits heute spürbar. Die Menschheit steht nicht vor einer zukünftigen Bedrohung, sondern durchlebt den Kollaps, den sie einst für morgen hielt. Und der Klimakollaps ist nicht die einzige Arena, in der diese Blindheit offenbar wird. Seit Ende 2023 hat die fortlaufende Zerstörung des Gazastreifens dieselbe Unfähigkeit offengelegt, der Realität ins Auge zu sehen: dieselbe Weigerung, Verbrechen anzuerkennen, während sie geschehen, dieselben Rechtfertigungen für das Unvertretbare, dasselbe Schweigen, wo Gewissen gefordert ist. Genau wie beim Klima wird das, was als unvermeidlich gilt, tatsächlich als Prozess behandelt – ein Prozess, der gestoppt werden könnte, aber stattdessen beschleunigt wird. Ein sterbender Planet und ein verlassenes Volk sind keine isolierten Tragödien. Sie sind Symptome einer einzigen zivilisatorischen Krankheit: der Bereitschaft, Wahrheit, Gerechtigkeit und das Leben selbst zu opfern, um die Illusion von Kontrolle zu bewahren. Wo die Realität die Vorhersagen überholt hat Die Fakten sind klar: Der IPCC hat die Geschwindigkeit und Schwere des Klimawandels konsequent unterschätzt. Während seine Prognosen im Allgemeinen in die richtige Richtung wiesen, hat die Realität sie überholt, manchmal um Jahrzehnte. Arktisches Meereis - Vorhersage: Der erste IPCC-Bericht (1990) deutete an, dass erhebliche Rückgänge des sommerlichen arktischen Meereises gegen Ende des 21. Jahrhunderts auftreten würden. - Realität: Bis 2020 war die Ausdehnung des sommerlichen Meereises im Vergleich zu 1979 um etwa 40 % zurückgegangen. Eisarme Sommer werden nun innerhalb der nächsten zwei Jahrzehnte erwartet. Die Arktis erwärmt sich viermal schneller als der globale Durchschnitt. - Referenz: National Snow and Ice Data Center; Notz & Stroeve (2016); IPCC AR6 (2021). Globale Temperaturen - Vorhersage: Der zweite Bericht (1995) prognostizierte eine Erwärmung von 0,1–0,2 °C pro Jahrzehnt. - Realität: Seit 1980 sind die globalen Oberflächentemperaturen um etwa 0,2 °C pro Jahrzehnt gestiegen. Die letzten acht Jahre waren die wärmsten seit Beginn der Aufzeichnungen. - Referenz: NASA; NOAA; Weltorganisation für Meteorologie (WMO). Hitzewellen - Vorhersage: Der dritte Bericht (2001) stellte fest, dass häufigere und intensivere Hitzewellen gegen Ende des 21. Jahrhunderts wahrscheinlich seien. - Realität: Die Hitzewelle in Europa 2003, die Hitzewelle in Russland 2010 und die Hitzekuppel im Pazifischen Nordwesten 2021 waren so extrem, dass Attributionsstudien schlussfolgerten, sie wären ohne anthropogene Erwärmung praktisch unmöglich gewesen. - Referenz: Otto et al. (2021); Philip et al. (2021). Meeresspiegelanstieg - Vorhersage: Der vierte Bericht (2007) prognostizierte einen Meeresspiegelanstieg von 18–59 cm bis 2100, schloss aber ausdrücklich schnelle Eisschilddynamiken aus. - Realität: Der beobachtete Anstieg übertrifft bereits die mittleren Prognosen, und aktuelle Schätzungen deuten darauf hin, dass ein Anstieg von etwa 1 Meter bis 2100 wahrscheinlich ist. - Referenz: IPCC AR6 (2021); DeConto et al. (2021). Eisschilde - Vorhersage: Frühere Berichte deuteten an, dass die Eisschilde Grönlands und der Antarktis über Jahrhunderte weitgehend stabil bleiben würden. - Realität: Beide verlieren nun rapide an Masse. Allein Grönland verliert jährlich etwa 278 Gigatonnen Eis, und die Westantarktis zeigt einen beschleunigten Rückzug. - Referenz: IMBIE (2020); Shepherd et al. (2018). Permafrost und Methan - Vorhersage: Erhebliche Freisetzungen aus Permafrost und Methanklathraten wurden als ferne, jahrhundertelange Möglichkeit betrachtet. - Realität: Die Methankonzentrationen steigen seit 2007 stark an (~12 ppb/Jahr). Blubbernde Methanseen in Sibirien und auftauender Permafrost in Alaska und Kanada zeigen, dass die Destabilisierung bereits begonnen hat. - Referenz: NOAA; Walter Anthony et al. (2016). Wärmegehalt der Ozeane - Vorhersage: Modelle prognostizierten stetige Zunahmen, jedoch mit großer Unsicherheit. - Realität: Die Ozeane haben seit 1980 mehr als 230 Zettajoule Wärme aufgenommen, wobei die letzten Jahre rekordbrechende Zunahmen zeigen, die die Modell-Durchschnitte übertreffen. - Referenz: Cheng et al. (2023). Extreme Niederschläge - Vorhersage: AR4 (2007) warnte, dass starke Niederschlagereignisse später im Jahrhundert wahrscheinlich intensiver werden. - Realität: Katastrophale Überschwemmungen haben bereits zugeschlagen – Pakistan 2010 und 2022, Mitteleuropa 2021 und wiederholt der Mittlere Westen der USA – mit Intensitäten weit jenseits historischer Grundwerte. - Referenz: IPCC AR6 (2021); Lau et al. (2022). Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation (AMOC) - Vorhersage: AR4 deutete an, dass eine Schwächung über Jahrhunderte hinweg auftreten könnte. - Realität: Beobachtungen zeigen, dass die AMOC derzeit so schwach ist wie seit mindestens einem Jahrtausend. Frühwarnindikatoren deuten auf einen möglichen Kollaps innerhalb von Jahrzehnten hin. - Referenz: Caesar et al. (2021); Boers (2021). Waldbrände - Vorhersage: Frühe IPCC-Berichte erwähnten das Brandrisiko nur beiläufig. - Realität: Australiens Schwarzer Sommer (2019–20), Kaliforniens Megabrände und massive Brände in Sibirien, Griechenland und Kanada zeigen ein Brandverhalten, das weit über die Normen des 20. Jahrhunderts hinausgeht. - Referenz: Abatzoglou & Williams (2016). Ökosystemkollaps - Vorhersage: TAR (2001) prognostizierte Verschiebungen der Artenverbreitung und Biodiversitätsverluste später im Jahrhundert. - Realität: Migrationen in Richtung der Pole und in höhere Lagen sind bereits dokumentiert. Korallenriffe, die einst als allmählich abbaubar galten, haben in nur drei Jahrzehnten die Hälfte ihrer Bedeckung verloren. - Referenz: Parmesan & Yohe (2003); Hughes et al. (2018); IPCC AR6 (2021). Gletscherrückzug - Vorhersage: FAR (1990) erwartete einen langsamen und stetigen Rückzug. - Realität: Tausende von Berggletschern sind bereits verschwunden, und viele weitere werden voraussichtlich innerhalb von Jahrzehnten vollständig verschwinden. - Referenz: Zemp et al. (2019); IPCC SROCC (2019). Ozeanversäuerung - Vorhersage: AR4 (2007) bemerkte die Versäuerung als Problem, jedoch ohne starken Nachdruck. - Realität: Der pH-Wert der Ozeane sinkt schneller als erwartet, was schalenbildende Organismen, Korallenriffe und Fischereien bedroht. - Referenz: Doney et al. (2020). Kohlenstoffspeicher - Vorhersage: Modelle gingen davon aus, dass natürliche Speicher (Ozeane und Wälder) etwa die Hälfte der anthropogenen CO₂-Emissionen während des Jahrhunderts absorbieren würden. - Realität: Beobachtungen zeigen eine nachlassende Kapazität. Der OCO-2-Satellit der NASA zeigte, dass 2023 die schwächste Landkohlenstoffspeicherung seit zwei Jahrzehnten verzeichnet wurde. Teile des Amazonas sind bereits netto Kohlenstoffquellen. - Referenz: Gatti et al. (2021); NASA OCO-2. Energetische Ungleichheit der Erde - Vorhersage: Ein allmählicher Anstieg wurde erwartet. - Realität: Satellitendaten zeigen, dass die energetische Ungleichheit der Erde sich seit 2005 verdoppelt hat und 2023 etwa 1 W/m² erreichte – doppelt so viel wie die „beste Schätzung“ des IPCC. - Referenz: Loeb et al. (2021). Die Schlussfolgerung ist unvermeidlich: Die Welt bewegt sich nicht schneller als die Wissenschaft, sondern schneller als der vorsichtige Konsens des IPCC. Die wissenschaftliche Methode und die Landebahn Die wissenschaftliche Methode fordert, dass gescheiterte Vorhersagen zu einer Anpassung der Hypothesen führen. Doch in der Klimawissenschaft wurden, obwohl die Richtung der Veränderung korrekt war, Tempo und Schwere konsequent unterschätzt. Anstatt entschlossen zu rekalibrieren, zögern IPCC-Berichte: „geringe Zuverlässigkeit“, „mittlere Übereinstimmung“, „sehr wahrscheinlich bis 2100“. Diese Sprache dient dem politischen Konsens, verrät aber die wissenschaftliche Dringlichkeit. Die Konsequenz ist fatal. Politiker und die Öffentlichkeit werden beruhigt, dass noch Zeit bleibt, obwohl die sichere Bremsstrecke längst verschwunden ist. Der Klimawandel entfaltet sich nicht auf dem Papier; es ist eine Landung mit hohen Einsätzen. - Das Flugzeug: die menschliche Zivilisation, schwer von der Trägheit fossiler Brennstoffe. - Die Landebahn: das Kohlenstoffbudget – verkürzt durch Emissionen, geschwächte Speicher, unterschätzte Rückkopplungen. - Die Bremsen: Minderung und Anpassung, abgestumpft durch politische Verzögerungen. - Die Piloten: gewählte Führer, die die Instrumente falsch lesen, die Landebahn überschätzen und die Bremswirkung unterschätzen. Bei Flugzeugunfällen führen Illusionen von Spielraum zu Landebahnüberschreitungen. Im Klima gilt dieselbe Dynamik. Illusionen von Kohlenstoffbudget und Speicherresilienz haben uns an den Rand des Überschreitens geführt. Wir haben möglicherweise bereits den Punkt ohne Wiederkehr passiert. Ein Absturz bedeutet nicht zwangsläufig das Aussterben, aber kaskadierende Ausfälle in den Systemen, die uns erhalten – Nahrung, Wasser, Gesundheit, Sicherheit, Stabilität. Klima, Heuchelei und die Verteufelung von Verantwortung Das moralische Versagen der Klimaleugnung und politischer Gewalt sind nicht getrennt. Sie überschneiden sich auf Weisen, die die Tiefe der menschlichen Heuchelei offenbaren. Westliche Regierungen und Medien verteufeln oft Muslime als Bedrohung, brandmarken sie als „Terroristen“. Doch dieselben Länder destabilisieren das Klima der Erde und machen weite Teile der Welt – insbesondere in mehrheitlich muslimischen Regionen im Nahen Osten, Nordafrika und Südasien – zunehmend unbewohnbar. Die Ironie ist frappierend. Die Pro-Kopf-Treibhausgasemissionen in vielen muslimischen Ländern sind nur ein Bruchteil derer im Westen. Viele Gemeinschaften in diesen Regionen leben näher an der Nachhaltigkeit als industrialisierte Gesellschaften, sei es aus Notwendigkeit oder Absicht. Und im Islam ist Khalifa – die Verantwortung für die Schöpfung – ein Kernwert. Er fordert, dass die Menschheit mit der Pflege der Erde betraut ist, nicht berechtigt, sie auszubeuten. Diese Ethik ist völlig unvereinbar mit einem System, das Wälder, Ozeane und die Atmosphäre für kurzfristigen Profit opfert. Wenn westliche Nationen jene mit kleinerem ökologischen Fußabdruck als „Terroristen“ bezeichnen, während ihre eigenen Volkswirtschaften den planetaren Zusammenbruch vorantreiben, ist das buchstäblich der Topf, der den Kessel schwarz nennt. Schlimmer noch, es legt eine tiefere Angst offen: Die Werte von Verantwortung und Zurückhaltung stellen eine Bedrohung für eine extraktive Ordnung dar, die auf Leugnung, Konsum und Dominanz basiert. Die Geschichte wird beurteilen, wer die Terroristen waren. Schlussfolgerung Der IPCC hat der Menschheit unschätzbares Wissen geliefert, aber indem er seine Warnungen hinter vorsichtigem Konsens verhüllte, hat er den politischen Entscheidungsträgern eine Illusion von Zeit gegeben, die nicht mehr existiert. Wir sind Passagiere eines Flugzeugs, dessen Piloten die Instrumente falsch gelesen, die Landebahn überschätzt und die Glätte des Rollfelds unterschätzt haben. Ein Absturz ist nun das wahrscheinlichste Ergebnis. Doch selbst das verfehlt die tiefere Wahrheit. Der Wert des Überlebens der Menschheit hängt nicht nur davon ab, ob wir das Klima stabilisieren können. Er hängt auch davon ab, ob wir unseren moralischen Kompass intakt halten können. Die Zerstörung des Gazastreifens, die seit Ende 2023 anhält, zeigt dieselbe Pathologie wie der Klimakollaps: Gräueltaten, die als unvermeidlich behandelt werden, Prozesse, die gestoppt werden könnten, werden stattdessen beschleunigt. Dieselbe Blindheit, die unsere Reaktion auf steigende Meere und brennende Wälder betäubt, betäubt auch unsere Reaktion auf menschliches Leid, wenn es politisch unbequem ist. Wenn wir die Verwundbaren nicht verteidigen, wenn wir Gräueltaten nicht ablehnen, was genau versuchen wir dann im Kampf gegen den Klimakollaps zu bewahren? Eine Zivilisation, die sich selbst beglückwünscht, während sie sowohl den Planeten als auch seine Menschen verrät, verdient kein Überdauern. Die Klimakrise zeigt, dass wir die physische Landebahn nicht klar sehen. Gaza zeigt, dass wir auch die moralische Landebahn nicht sehen. Zusammen bezeugen sie, dass die Überschreitung nicht nur bevorsteht – sie ist bereits im Gange. Beides sind Prozesse, beides kann noch gestoppt werden, aber nur, wenn die Menschheit den Mut findet, den sie bisher verweigert hat.